
15. Oktober 2024 · 9 Minuten Lesezeit
Die besten Weltuntergänge
Die besten Weltuntergänge – was wird aus uns? Der Titel von Andrea Paluchs Kinderbuch ist gefundenes Fressen für Verschwörungstheoretiker. Denn genau wie bei Klaus Schwabs The Great Reset reicht ihnen dieser aus, um etliche Theorien rund um das Buch von Robert Habecks Frau zu spinnen. Welche das sind und was an diesen dran ist, erfahrt ihr in diesem Artikel.
Und plötzlich war da Ken Jebsen
Über zwei Jahre war das Kinderbuch bereits veröffentlicht, als Ken Jebsen – ein bekanntes Gesicht unter Verschwörungstheoretikern – darauf aufmerksam wurde. Im November 2023 publizierte apolut.net (eine Plattform, an der Jebsen beteiligt ist) einen Artikel, der Frau Paluch schwere Vorwürfe macht. Ihr werden gezielte Panikmache, Indoktrination und Propaganda unterstellt.
Im Dezember 2023 schloss sich Compact der Hexenjagd an. Das Magazin veröffentlichte ein Video, in dem Frau Paluch vorgeworfen wird, sie wolle Kinder auf den Weltuntergang vorbereiten und ihnen ganz die Freude an der Zukunft nehmen. Darüber hinaus wird in bewährter Manier gegen die Grünen gehetzt und mit altbekannten Verschwörungsmythen hantiert.
Der Telegram-Post des »Patriotenkanal« vom Dezember 2023, liefert eine treffende aber zugleich bedrückende Einsicht in die Denkweise vieler Kritiker: »KRANK!!!!!!!!! Die Ehefrau von Robert Habeck, Andrea Paluch, hat ein Kinderbuch für Kinder ab 8 Jahren geschrieben, Titel: “Die besten Weltuntergänge”. Darin geht es um Killerviren, Erstickungstot, Verdursten und den nuklearen Holocaust. Das perfekte Buch für Kinder! 🤡 Bald ist Weihnachten. Wir werden von einer kranken Kaste Menschen regiert – mich wundert bald gar nichts mehr.«
Dank der neu gewonnenen Aufmerksamkeit erntete das Kinderbuch in den folgenden Monaten hasserfüllte Rezensionen. Sowohl dem Klett-Verlag (der Herausgeber des Buches) als auch vermutlich Frau Paluch persönlich wurden zahlreiche Hassbriefe versandt. Im Januar 2024 führte der MDR ein Interview mit Monika Osberghaus von Klett über den Shitstorm. Frau Osberghaus hatte die ursprüngliche Idee zum Buch.
Was wird aus uns?
Für alle, die das Kinderbuch nicht gelesen haben, wollen wir es kurz vorstellen: Frau Paluch beschreibt darin zwölf Zukunftsszenarien – zwölf »Weltuntergänge«. Dabei stellt Paluch den Begriff Weltuntergang auf den Kopf und fünf der Szenarien sind reinste Utopien. Klingt paradox? Ist es aber nicht. Denn für Frau Paluch bedeutet Weltuntergang lediglich, dass die heutige Welt aufhört zu existieren und eine neue beginnt. Wie diese neue Welt aussieht und welche Rolle wir bei ihrer Gestaltung spielen – das ist das zentrale Thema des Buches. In manchen Kapiteln haben wir die Welt zum Positiven verändert – in anderen jedoch nicht. Daher stehen neben den Utopien auch sieben teils bedrückende Erzählungen.
Somit ergibt sich eine große Vielfalt an Geschichten: von naturnahen Traumwelten ohne Grenzen, Autos oder Massentierhaltung bis hin zu finsteren Visionen, in denen Sonnenstrahlen tödlich sind oder Sauerstoff knapp wird. Einige dieser Welten wirken wie Kinderträume, andere wie Warnungen. Doch alle laden dazu ein, über Gegenwart und Zukunft nachzudenken.
Wer sich selbst ein Bild machen möchte, findet hier die offizielle Leseprobe.
Die Kritiken
apolut.net und die Strafe Gottes
Auch apolut.net versucht sich an einer Zusammenfassung des Kinderbuchs, bedient sich dabei jedoch zahlreicher frei erfundener Elemente. Wir wollen anhand einiger Beispiele verdeutlichen, wie verzerrt die Plattform die Erzählungen darstellt:
Der Geschichte Die Luft wird dünn (in der Leseprobe enthalten) wird unterstellt, dass »die Menschen in dieser Episode […] in ständiger Angst [leben], in der sauerstoffarmen Luft zu ersticken«. Diese Behauptung wird, insbesondere im Zusammenhang mit Aussagen eines Corona-Strategiepapiers, zu einem zentralen Kritikpunkt aufgebauscht. Doch diese Darstellung ist schlicht falsch: In der Geschichte versorgt eine »grüne Lungen« die Menschen mit ausreichend Sauerstoff. Es herrschen weder Panik noch Sauerstoffmangel. Was als harmlose Umweltparabel geschrieben ist, wird von apolut.net zum Schreckensszenario konstruiert.
Im Kapitel Nach der großen Flut (ebenfalls in der Leseprobe enthalten) sieht apolut.net ein »dreistöckige(s) Erziehungsszenario mit Rückgriff auf die gottgesandte Sintflut als Strafe für ein allzu ausschweifendes Leben«. Dabei kommt in der Geschichte – auch wenn es der Titel vermuten lässt – eine Sintflut überhaupt nicht vor. Offenbar hat apolut.net tatsächlich nur die Überschriften gelesen. Übrigens: auch in dieser Erzählung sucht man vergebens nach der angeblich allgegenwärtigen Panik.
Das düstere Zeitalter der Dürre deutet die Plattform als »göttliche (…) Strafe, (…) damit die Achtjährigen begreifen, was ihnen blüht, wenn sie sich nicht an die Regeln halten«. Abgesehen davon, dass wir uns fragen, ob apolut.net einen Fetisch für die Strafe Gottes hat – das Fegefeuer wird in ihrem Artikel auch noch erwähnt – wird in der Erzählung niemand für die dystopischen Zustände verantwortlich gemacht. Es werden weder Moralpredigten gehalten, noch Sündenböcke benannt. Aber apolut.net scheint Abstraktion verwehrt zu bleiben. Während Kinder intuitiv verstehen, dass Geschichten symbolische Lehren vermitteln können, ohne dass diese einen realen Bezug haben müssen, zerrt die Plattform die Fiktion zwanghaft in die Realität.
Dabei dichten sie übrigens auch ein buchstäbliches Kinderparadies zu einer Verschwörung um. Denn dieses sei Belohnung für »brave Kinder« und »brav sein« ist ein altbekanntes Motiv von Verschwörungstheoretikern (Schlafschafe sind brav, Querdenker denken quer). Für einen Hammer sieht eben alles aus wie ein Nagel.
Compact macht es nicht besser
Compact scheint auch nicht wirklich mehr als die Überschriften gelesen zu haben: Der Moderator des Videos spricht von zwölf Horrorszenarien – wir erinnern uns: einige der Erzählungen sind reinste Utopien. Um seine Argumentation nicht selbst zu untergraben, stellt er deshalb ausschließlich düstere Kapitel vor. Dabei bedient er sich derselben Taktik wie apolut.net und dramatisiert die Geschichten so, dass diese wie die reinsten Horrorszenarien anmuten.
Von der Co-Moderatorin fällt zwischendrin der Satz: »[das Buch] erscheint jetzt zur Weihnachtszeit, das empfinde ich schon fast als bösartig« – wobei das Buch ja bereits zwei Jahre zuvor im Sommer herausgegeben wurde. Später korrigiert sie sich, stellt aber gleich die nächste Falschbehauptung auf: Die neu gewonnene Aufmerksamkeit, die das Buch ja vor allem Ken Jebsen zu verdanken hat, deutet sie als »Agenda der Grünen« um. Wir sind uns sicher, Frau Paluch hätte auf diese Art der Aufmerksamkeit lieber verzichtet.
Wer sind die Panikmacher?
Denn die Vorwürfe gegen sie wiegen schwer. So wird ihr etwa gezielte Panikmache vorgeworfen. Aber um dieses Argument überhaupt anbringen zu können, müssen die Kritiker Inhalte erfinden oder stark verzerrt wiedergeben. Dichtet man einem Buch konstruierte Elemente hinzu – wie etwa die Behauptung, dass alle Menschen in ständiger Erstickungsangst leben – ist es leicht, der Autorin daraufhin Panikmache vorzuwerfen. Der Patriotenkanal fabuliert von Killerviren, Erstickungstod und nuklearem Holocaust – alles frei erfunden.
Ja, manche Kapitel sind düster. Aber muss man Kindern jedwede Darstellung von Leid und Tod vorenthalten? Beides sind Realitäten, mit denen man oft bereits im jungen Alter in Berührung kommet. Nicht umsonst gibt es zahlreiche Kinderbücher, die sich explizit diesen Themen widmen. Das Kinderbuch vom Tod richtet sich an 5- bis 7-Jährige und präsentiert auf seinem schwarzen Einband unverblümt einen Totenkopf, gefolgt von einem Gedicht über das Sterben. Vertrau mir, flüstert die Traurigkeit, ein Buch ab 5 Jahren, thematisiert offen Verlust und Trauer. Das Aufgreifen dieser Themen in Kindermedien ist nicht nur angemessen, sondern wichtig.
In einem Interview des Centre for Apocalyptic & Post-Apocalyptic Studies legt Frau Paluch ihre Intentionen hinter dem Buch dar: Zum Nachdenken anregen und einen positiven Umgang mit negativen Situationen vermitteln. Unserer Meinung nach ist ihr das gelungen – Indem sie Kindern die Kraft ihres eigenen Handelns vor Augen führt. So erlernen die jungen Leser eine konstruktive Methodik, mit schwierigen Situationen umzugehen. Unserer Meinung nach ist das Kinderbuch damit die Antipode zur Panikmache. Gerade zu der Zeit der Veröffentlichung des Buches, als ein drohender Weltuntergang in aller Munde war, bot es einen wichtigen Gegenpol. Indem es die Thematik aufgriff und konstruktiv weiterentwickelte.
Außerdem: gerade apolut.net, Compact& Co. sollten sich beim Thema Panikmache lieber zurückhalten. Denn es sind doch sie, die täglich den bevorstehenden Weltuntergang prophezeien. Ein Blick auf einige Schlagzeilen von apolut.net und Compact verdeutlicht das eindrucksvoll: Folter und Bomben: Die Mocro-Mafia kommt zu uns! (Compact Video), Vogelgrippe: Neuer Impf-Terror im Anmarsch! (Compact Video), Alarm! Islamisten planen EM-Anschlag (Compact Video), Bedroht eine weltweite Gesundheitsdiktatur die Souveränität der Schweiz? (apolut.net Beitrag), Es ist 5 vor Krieg (apolut.net Beitrag), Deutschland vor dem drohenden Krieg – einTrauerspiel (apolut.net Beitrag)… und das ist nur ein winziger Ausschnitt der täglichen Unheilsverkündigungen.
Wie indoktriniert man Kinder?
Ein weiterer schwerwiegender Vorwurf richtet sich gegen eine vermeintliche Indoktrination. Doch wie indoktriniert man eigentlich Kinder? Ein entscheidender Faktor ist die gezielte, massive Manipulation durch gesteuerte, einseitige Information. Viele wissen das und einige der Rezensionen zum Buch lauten daher sinngemäß: »Jetzt muss das Buch nur noch Pflichtlektüre werden«. War es aber nie. Wird es auch nie werden. Es sei daran erinnert, dass das Buch zwei Jahre lang praktisch unbeachtet blieb, bevor es überhaupt in den Fokus von Verschwörungstheoretikern geriet. Kaum das Kennzeichen einer gezielten Indoktrinationskampagne.
Die Altersempfehlung
Sogar die Altersempfehlung des Buches, ab 8 Jahren, wird kritisiert. Dabei wird übersehen, dass diese lediglich einen Vorschlag für das Mindestalter darstellt und selbstverständlich nicht von Frau Paluch alleine getroffen wird. Wir haben den Klett-Verlag gefragt, wie bei ihnen die Altersempfehlung festgelegt wird: »Die Entscheidung für die Altersangabe trifft im ersten Schritt unser Lektorat, gemeinsam mit der Autorin/dem Autor. Die Kolleginnen orientieren sich dabei an ihren Erfahrungswerten. Später wird die Wahl noch mit dem Vertrieb abgestimmt, der Außendienst darf auch noch mitreden.«
Unser Fazit
Es zeigt sich ein Muster: Die Verschwörer sind genötigt, die Realität zu verbiegen oder Tatsachen zu erfinden, um ihren Anschuldigungen Substanz zu verleihen. Weder apolut.net, Compact, der Patriotenkanal noch andere Plattformen können Vorwürfe gegen die tatsächlichen Buchinhalte erheben. Offenbar bot das Buch mit seinem Titel und seiner Autorin lediglich das perfekte Feindbild – und einen Kristallisationspunkt für alle, die darin eine willkommene Gelegenheit sahen, ihr Weltbild zu bestätigen und ihre Ressentiments gegen die Grünen zu nähren.
Auch apolut.net, Compact und der Patriotenkanal wissen um die Schwäche ihrer Argumente. Immerhin waren sie es, die das Kinderbuch zum reinsten Horrorszenario konstruierten. Damit entlarven sie sich als Plattformen, die ihre Leser bewusst zu propagandistischen Zwecken belügen. Das ist das Ergebnis, wenn journalistische Integrität völlig einer ideologischen Agenda geopfert wird.